Die Fotoausstellung

Die Fotoausstellung „Geschichten der Flucht und der Ankunft“ knüpft an eine der tiefgreifendsten menschlichen Erfahrungen an – die Migration. Infolge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine sahen sich Millionen von ukrainischen Frauen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen und sich auf eine Reise ins Ungewisse zu begeben. 

40 Frauen in Augsburg, Deutschland, sowie in Lwiw und Tscherniwzi, Ukraine, erzählen, welche Gegenstände sie auf ihre Flucht mitgenommen haben und was sie in dieser Zeit gestärkt hat. Diese Gegenstände sind nicht nur physische Begleiter, sondern auch symbolische Verbindungen zu Begriffen wie Heimat, Sicherheit, Verlust und Wandel.

Jedes Bild erzählt eine Geschichte, jedes Objekt birgt eine Welt von Erinnerungen. Die Fotoausstellung ist eine Hommage an all diejenigen, die fliehen mussten und nach Halt suchten. 

Natalya

geb. 1947
Musiklehrerin aus Slowjansk

Ich bin Musiklehrerin an einer Kunstschule in der Stadt Slowjansk. Im Jahr 1993 habe ich eine Jazzband gegründet. Unser Bassist wohnt in der Nähe von mir. Einmal sagte ich zu ihm: „Lass uns etwas tun, wenn nicht heute, dann morgen werden wir beschossen.“ Meine Verwandte rief mich schon lange nach Deutschland. Aber mein Bassist wollte nicht gehen. Ich habe ihn überredet, wenigstens mich dorthin zu bringen. Ich hätte das allein nicht geschafft. Ich hatte einen Schlaganfall und ging mit einem Stock.

Wir sind in den Evakuierungszug gestiegen, ich mit meiner Tasche und meinem Stock. Wir sind lange gefahren, und auf dem Weg habe ich ständig aus dem Fenster geschaut und gedacht: Soll ich aus diesem Zug aussteigen und nach Hause zurückkehren?

Innerhalb eines Tages habe ich gepackt: Ich habe alles Mögliche in meinen Koffer reingeworfen. Ich habe meine Dokumente vergessen. Noten! Das ist das Wichtigste. Einige Noten habe ich mitgenommen. Chopin. Einfach aus dem Buch herausgerissen. Es wäre ungünstig gewesen, das dicke Buch mitzunehmen. „Nocturne" wird jeden Tag im Radio gespielt. Und ich öffne die Noten und lese mit. Manchmal, wenn ich in der Schule geübt, Noten geschrieben, Stimmen verteilt habe, kam plötzlich der Gedanke „Ich muss den letzten Bus erwischen!“, aber ich hatte Chopin noch nicht gespielt… Das war für mich ein Ritual – ohne Chopin ging ich nicht aus dem Klassenzimmer.

Ich habe viele Noten zu Hause. Alles ist zurückgeblieben. Ich habe sie angeschaut und gesagt: „Bleibt hier". Vielleicht verbrennen sie ja. Bachmut ist ja schon abgefackelt. Da war eine Musikschule. Es wird mir leidtun um die Noten, wenn sie verloren gehen. Für mich haben die einen spirituellen Wert.

Es wird mir leidtun für die Noten, wenn sie verloren gehen.

Fotos habe ich mitgenommen, von meiner Mutter und meinem Großvater. Die standen auf meinem Klavier daheim. Am wichtigsten sind diese Bilder von meiner Mutter. Ihre Jugend, meine Kindheit mit ihr. Meine Mutter hat einen großen Beitrag zu meiner Erziehung geleistet. Sie hat selbst in der Verbannung gelitten, und ich bei ihr.

Ein Foto von unserer Band, Erinnerungen an Auftritte bei „Jazz-Improvis“, Fotos vom Park, Fotos vom Plakat am Zaun, das ich auf einer alten Tür gemalt hab, zuerst mit Kreide, dann mit Farbe, mit einem dünnen Pinsel. Diplome von Wettbewerben. Alles, damit meine Arbeit nicht verloren geht, damit die Erinnerung bleibt. Das alles ist der Sinn meines Lebens. Wenn das Haus abbrennt, dann bleiben wenigstens die Erinnerungen.

Ich habe die ukrainische Flagge genommen, die nun an meinem Fenster hängt. Niemand hat sie heruntergerissen. Und hier kommen viele verschiedene Leute vorbei. Und nicht alle sind freundlich gegenüber der Ukraine. Es gab Stürme, aber die Flagge hängt noch immer am Fenster und flattert. Also lebt die Ukraine. Sie soll für die Ukraine stehen. Ich danke Augsburg für die Zuflucht und die Jazzkonzerte im Botanischen Garten. Ich denke immer darüber nach, nach Hause zurückzukehren. Es fällt mir hier seelisch sehr schwer.

Fotograf: Marc Köster


Olha

Olha Nikolaieva
geb. 1966
Lehrerin für ukrainische Sprache und Literatur aus Berdjansk

Ich wusste, dass der Krieg kommt. Mein verstorbener Vater erschien mir im Traum und warnte mich davor. Aber ich hatte nicht vor zu fliehen. Uns war es bewusst, dass wir abgeschnitten werden und dass die Lage nur schlimmer wird. Also haben wir alles vorbereitet: Medikamente, Mehl, Zucker, Speiseöl. Wir hatten auch viele Dinge, die wir selbst eingekocht hatten.

Ich bin am 16. Mai geflohen, nach dem „die Hereinkommer“, so nenne ich sie, bei mir waren. Einundzwanzig bewaffnete Personen. Sie nahmen mich ins Kommandantenbüro mit. Ich musste fliehen. Zusammen mit allen habe ich mich nicht getraut, ich hatte Angst, dass ich damit die anderen Menschen im Bus gefährden könnte. Deswegen floh ich mit treuen Freunden. Meine Mama ist 82, sie ist unter der Okkupation zurückgeblieben. Wir fuhren sehr lange – zweihundert Kilometer in vier Tagen. Große Hitze, einundzwanzig russische Kontrollposten, jeder davon hatte eigene Regeln. „Die Hereinkommer“ waren oft betrunken, fingen Schießereien an. Sie hatten keine Vorstellung davon, was die Steppe und Hitze bedeutet. Deswegen waren Wasser, und auch Schnaps oder Zigaretten, gute Zahlungsmittel, um zu vermeiden, dass unsere Sachen durchsucht wurden. Bei Wasyliwka haben sich etwa fünfhundert Autos gesammelt. Die Menschen starben in diesen Kolonnen… da hat sich so manches zugetragen...

Ich hatte 25 Minuten zum Packen. Das Wertvollste – die Wyschywanka-Sammlung (Anm. d. Red.: besticktes Trachtenhemd). Ich habe sie rausgeholt, angeschaut und verstanden, dass ich sie nicht mitnehmen kann. Ich habe Fotos mitgenommen: das erste – meine Großfamilie väterlicherseits, das zweite – ein Hochzeitsfoto von meinem Mann und mir. Er ist ein Nachkomme der Don-Kosaken; ich bin ein Kind des Saporoger Kosakenstammes.

Die Ohrringe, die mir mein Mann von seiner ersten Rente gekauft hat. Der Badeanzug sprang selbst in die Tasche. Ich war überzeugt, dass sich irgendwo ein Gewässer finden wird. Ich kann mir mein Leben ohne Wasser nicht vorstellen. Das Buch von Lina Kostenko „Heraklits Fluss“. Das haben mir die Schüler zum Valentinstag geschenkt. Ich entnehme mir daraus täglich den Spruch des Tages. Lina Kostenko hilft mir, zu überleben. Und außerdem ein Reise-Nähset, schließlich will jede Frau gepflegt aussehen. Ich habe es 1984 gekauft, als ich noch Studentin war.

Die Ohrringe, die mir mein Mann von seiner ersten Rente gekauft hat.

Hier in Tscherniwzi habe ich bei einem Ausverkauf einen kleinen Elefanten gefunden, er bewacht mich im Schlaf… Meine Elefantensammlung ist in Berdjansk geblieben. Ich liebe Spielzeuge. Das kommt wahrscheinlich aus der Kindheit, damals hatten wir zu wenig davon.

Hier habe ich mir ein Wyschywanka-Kleid in schwarz gekauft, weil ich zur Kirche gehe und dort Sorokoust (Anm. d. Red.: Vierzig-Tage-Gedenken) erbitte. Die Seele ist voller Asche, weil so viele Menschen sterben (unter denen sich auch meine Schüler befinden). Für diejenigen, die ich kenne, ersuche ich um eine Fürbitte für Gesundheit, und für so manche – ewige Ruhe. Unsere Freiheit hat einen hohen Preis.

Fotograf: Maksym Kozmenko


Adelina

Adelina Manaharova 
geb. 2001
Studentin aus Nowa Kachowka, Region Cherson

Am 24. Februar rief mich meine Mutter an und sagte, meine Heimat, Nowa Kachowka, sei okkupiert. Sie verbot mir, zurückzukehren. Ich war in Mykolajiw, das unter Beschuss stand, und schrieb meine Diplomarbeit. Die Lebensmittel wurden knapp, und Brot wurde nur einmal am Tag geliefert. Drei Tage vor der Flucht gab es nicht weit von uns eine Explosion. Eine Schule wurde getroffen. Ich floh mit einer Freundin, alleine hatte ich Angst. Wir dachten, wir fahren für ein oder zwei Wochen. Erst fuhren wir nach Odessa, dann nach Lemberg (Lwiw). 

Das Wichtigste, was ich mitgenommen habe, ist die Landkarte des Bezirks Cherson. Diese Karte habe ich bei einem literarischen Wettbewerb gewonnen. Darauf ist Nowa Kachowka markiert – „Stadt der tausend Quellen“, das Wasserkraftwerk, ein großer Park, Häuser mit Stein-Wyschywankas (Anm. d. Red.: Fassadenverzierungen in Stickoptik). Eines davon traf vor zwei Monaten eine Granate. Das Haus ist nicht mehr da. Auf der Karte stehen noch viele andere Dinge: Cherson, Tatschanka, Askania-Nova, Kazkova Dibrova, der Lemurianische See, Ausgänge zum Asowschen Meer und zum Schwarzen Meer. Das war einst ein Paradies. Dann wurde das Wasserkraftwerk in Nowa Kachowka gesprengt. Und all das wurde überflutet. Das ist so surreal. Ein Albtraum. Auf dieser Karte habe ich auch markiert, wo die russischen Truppen stehen. Ich brauche diese Karte, auf diese Weise ist mein Zuhause bei mir.

Ich habe das Schachspiel meines Opas mitgebracht, es erinnert mich daran, als wir früher zusammen gespielt haben. Ich habe auch einen Plüsch-Haifisch dabei. Als ich in Mykolajiw alleine lebte, kaufte ich ihn mir als Freund. Mit ihm ging ich immer in die Schutzunterkünfte, und er war auch während der Beschüsse immer bei mir. 

Und ich habe noch eine Steinsammlung. Diese Steine erinnern mich an meine Heimat und an verschiedene Reisen. Ich nehme sie in die Hand und erinnere mich – das ist so eine Art Therapie.

Mein Kraftort in Lemberg (Lwiw) ist ein See im Snopkivs'kyy Park. Nach der Sprengung des Kraftwerks in Nowa Kachowka hatte ich Angst vor Wasser. Nun komme ich hierher. Denn der See ist grün. Wenn er blau wäre, könnte ich nicht hierherkommen, denn das Wasser des Dnipro ist blau.

Das Wichtigste, was ich mitgenommen habe, ist die Landkarte des Bezirks Cherson.

Wenn ich aus Lemberg (Lwiw) zurück nach Hause gehe, werde ich sicher Fotos und kleine Geschenke mitnehmen: Spielzeug, Postkarten. Als Erinnerungen an die Zeit und die Menschen. Ich würde gerne Menschen mitnehmen, aber die Menschen kann man nicht an sich binden. Deswegen nehme ich sicher Fotos und Postkarten mit. In Lemberg (Lwiw) ist alles voller Kunst – deswegen bringe ich Kunst nach Nowa Kachowka mit. Und ich habe einen Traum: dass die steinernen Wyschywanka-Häuser von Nowa Kachowka zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt werden.

Fotografin: Adriana Dovha


Natascha

Natascha
geb. 1980
Grafikdesignerin aus Donezk

Von Donezk bis zu unserer Heimatstadt Awdijiwka sind es 10 Minuten Fahrt. In 2014 wurde dort alles geschlossen und man musste mehrere Nächte im Kontrollpunkt übernachten, um in die eigene Stadt zu gelangen. Die letzten zwei Jahre ging es überhaupt nicht, von Donezk nach Awdijiwka zu kommen.

Wir sind 2014 geflohen. Damals, als alles begann, dachte jeder, dass es schnell vorbei sein würde. Wir planten, für zwei Wochen wegzufahren. Wir haben nichts von zu Hause mitgenommen. Das nächste Mal kamen wir 2016 nach Awdijiwka. Es gab Beschuss. An diesem Abend sagte ich: „Lieber Gott, lass uns bis zum Morgen überleben, und ich werde nicht mehr in diese Stadt zurückkehren, bis all das vorbei ist.“ Aus Donezk brachte man uns mit einem Auto raus. Man fuhr uns durch Felder und Wälder, mit einem uralten, klapprigen Auto, dessen Fensterscheiben kaputt waren und notdürftig mit einer Folie zugeklebt waren. So konnte man von außen nicht sehen, was im Inneren des Wagens war.

Zum Packen hatten wir einen Tag. Das ging alles sehr schnell und spontan. Ich sagte meiner Tochter, sie solle nichts mitnehmen. Wir hatten eine Katze im Korb. Sie war in der einen Hand, in der anderen das Katzenklo. Die Katze – das ist unsere besondere Liebe, „unsere allerteuerste Murka".

Einst, als ein Beschuss anfing, rannten alle in den Keller, und mein Mann suchte unsere Murka in der ganzen Wohnung. Er sagte: „Wie könnte ich sie zurücklassen?“ So kam unsere Murka mit uns. Es ist klar, dass es unmöglich ist, das gesamte Leben in zwei Taschen zu packen. Wir sind ohne eigenes Auto gefahren. Mein Mann hätte es nicht geschafft, mit dem Auto durch die ganze Stadt zum Kontrollpunkt zu fahren. Er wäre angehalten und mitgenommen worden. Viele Bekannte wurden mitgenommen. Ein befreundeter Taxifahrer hatte immer einen gepackten Koffer im Kofferraum, falls er ausgewählt wurde.

Als wir 2014 geflohen sind, fühlte es sich nicht wie Krieg an. Die Menschen reisen ins Weltall, und wir haben Krieg – das passt nicht zusammen. Man konnte es einfach nicht glauben. Als die große Offensive begann, konnte man das mehr spüren, und wir hatten unsere Dokumente griffbereit. Aber wenn die Panik und das Chaos auf einen zukommen, kann man nicht sofort begreifen, was man braucht. In Wirklichkeit trauere ich keinen materiellen Dingen nach. Nur mein Sohn fehlt mir.

All die 8 Jahre haben wir mit dem Gedanken gelebt, dass wir abreisen könnten, wenn unsere Dokumente in Ordnung sind. Ohne Pässe wären wir nicht durchgekommen. Russland hätte uns nicht herausgelassen, denn es wurde klar, dass man irgendwie kein Mensch ist, wenn man keine Dokumente hat.

Wir haben mehr als 4.000 Kilometer zurückgelegt. Wir sind über die Brücke gegangen, die Narva (Anmerkung der Redaktion: eine Stadt in Estland) und Russland trennt. Ich sagte zu meiner Tochter: "Du läufst auf der Brücke der Freiheit." Wie früher – die Menschen wurden durch Brücken und Flüsse getrennt. Und plötzlich bist du in einem freien Land. Du kannst atmen.

Und plötzlich bist du in einem freien Land.

Fotograf: Marc Köster


Nina

Nina Synytsyna
geb. 2004
Studentin aus Jalta (autonome Republik Krim, Ukraine)

Als der Krieg begann (Anm. d. Red. – Okkupation der Krim im Jahr 2014), war ich zehn Jahre alt. Wir lebten in Jalta. Ich konnte nicht fliehen, wobei meine Mutter ein paar Mal versuchte, mich rauszubringen. Mein Vater verweigerte seine Zustimmung.

Als ich 18 geworden bin, sind wir sofort nach Cherson gefahren, ein paar Tage vor der großen Invasion. Ich war so glücklich, dass ich endlich in der Ukraine bin, dass ich zusammen mit meiner Mutter sogar ein bisschen geweint habe. Ich habe dort eine Bescheinigung dafür bekommen, dass ich weiterfahren kann. Aber als die große Invasion begann (Anm. d. Red. und Cherson okkupiert wurde), mussten wir durch die Krim, Krasnodar, Sotschi reisen und die halbe Welt umrunden, um wieder in die Ukraine zu gelangen.

In Tscherniwzi habe ich meinen Pass bekommen. Hier hat es mir gefallen, und ich habe hier ein Studium der Umweltwissenschaften begonnen. Seit meiner Kindheit interessiere ich mich für alles, was mit der Natur zu tun hat. Die Natur hilft mir, wenn es mir schlecht geht.

Wir nahmen nicht viel mit, zwei kleine Koffer. Darin verschiedene alte Fotos, auf denen unsere Großeltern und andere Verwandte abgebildet sind, außerdem meine Kindheitsfotos. Und da gab es noch die Brosche meiner Oma mütterlicherseits, Alina. Ich liebe sie sehr, sie ist schon 90. Sie ist eine ernste, starke Frau, eine Griechin.

Außerdem habe ich einen kleinen Schlafanzug, der meinem Kätzchen gehört. Das Kätzchen heißt Alaster. Wir haben es noch nicht geschafft, es hierherzubringen. Wir überlegen gerade, wie wir das schaffen könnten. Aber zumindest der Schlafanzug ist hier.

Dazu noch habe ich das Kreuz, das mir meine Patin geschenkt hat. Es gibt mir Halt, wenn es schwierig wird.

In Jalta sind viele Bücher geblieben, ich lese gern. Die Psychologiebücher meiner Mutter sind auch dort geblieben. Auch das Buch meines Gymnasialdirektors aus Jalta. Er hat auch hier in Tscherniwzi studiert. Und das ist auch ein Grund, warum ich hier bin. Vielleicht werden wir sie nach dem Sieg hierherholen.

Die Natur hilft mir, wenn es mir schlecht geht.

In Tscherniwzi hat meine Mutter mir einen Anhänger gekauft, auf dem zwei Ähren abgebildet sind. Für mich sind das Symbole der Ukraine, meines Zuhauses. Ich interessiere mich sehr für Geschichte. Ich werde hier auch noch etwas kaufen, vielleicht ein besticktes Tuch.

Ich möchte sagen, dass es viele Menschen gibt, die von dort, wo ich herkomme (Anm. d. Red.: Krim), in die Ukraine zurückkehren möchten. Es gibt viele, die der Ukraine helfen. Nicht alle haben es geschafft zu fliehen, und es gibt viele Gründe dafür.

Fotograf: Maksym Kozmenko


Sova

Sova 
geb. 1978
Friseurin, Maniküristin und Nagelpflegerin aus Kostjantyniwka, Region Donezk

Wir sind am 25. März 2022 geflohen. Ich habe schon viele Male Tickets gekauft, Koffer gepackt und dann wieder ausgepackt.

Am 15. Februar haben mein Mann und ich unser 25-jähriges Jubiläum gefeiert – 25 Jahre gemeinsames Leben. Er nennt mich „Eule“. Wir haben fünf Kinder: zwei Mädchen und drei Jungen. Als er zu seiner Militäreinheit zurückkehrte, hat er ab dem 5. März den Kontakt zu uns abgebrochen. Ich begann, nach ihm zu suchen. Es stellte sich heraus, dass er in Gefangenschaft war.

Die Bombenangriffe waren sehr intensiv. Die Kinder konnten „Hagel“ und „Wirbelwinde“ am Geräusch unterscheiden. Vor den Angriffen schob unser Hund mich ständig ins Badezimmer. Wir lebten im fünften Stock. Oft war das Aufleuchten von Angriffen so hell, dass man Bücher lesen konnte. Nach einem solchen Bombardement bebte unser Gebäude etwa 20 Minuten lang. Der Jüngste sagte: „Mama, wenn unser Dach einstürzt, werden wir dann sofort getötet?“ Es war sehr gefährlich, hier zu bleiben, vor allem weil mein Mann Soldat war und gefangen genommen wurde.

So warf ich die Kinderkleidung in den Koffer und nahm den Hund mit. Er ist ein Familienmitglied. Wir flohen nach Lwiw, weil unsere Tochter dort an der Sahajdatschny-Akademie (Anm. d. Red. - Akademie der Landstreitkräfte) studierte. Hier habe ich die meiste Zeit damit verbracht, nach meinem Mann zu suchen. Ich habe überall angerufen, gebetet und nach ihm gesucht. Er kam vor Ostern durch den Gefangenenaustausch raus.

Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, wog er 80–85 kg. Nach der Gefangenschaft war er kahl und wog nur 45 kg. Er erzählte von den Folterungen und dem Hunger. Seine Beine und Brust waren verletzt. 

Während seiner Behandlung sind wir mit der Familie nach Jaremtsche gefahren, weil mein Mann von den Karpaten geträumt hat. Dort haben wir ein Porträt gemacht, auf dem mein Mann und ich Trachten tragen, im Stryjski-Park, dort mit den Schwänen. Unsere Söhne sind jetzt auch an der Sahajdatschny-Akademie. Ich dachte, nur meine Töchter und mein Mann würden Soldaten sein, aber nun auch die Jungs. Der jüngste Sohn möchte auch Soldat werden. Manchmal gehe ich zum Denkmal, das hier neben meinem Zuhause steht, und weine...

Unsere ukrainischen Frauen waren immer stark.

Lwiw ist eine sehr schöne Touristenstadt, aber es ist besser hierher zu kommen, um sich zu erholen. Ich liebe den Marktplatz, das Opernhaus und den Brunnen davor. Das Wasser beruhigt mich. Hier haben wir Fische gekauft. Sie beruhigen auch. Ich liebe geschmiedete Dinge. Während der ersten Evakuierung nach Poltava haben mir die Kinder eine geschmiedete Rose geschenkt, und in Lwiw habe ich einen geschmiedeten Blumenständer bekommen.

Unsere ukrainischen Frauen waren immer stark. Die Frauen der Kosaken. Sie sind ihren Männern gefolgt. Wir werden die Fische, den Hund, das Porträt und die geschmiedeten Dinge mit nach Hause nehmen. Und vor allem den Sieg!

Fotografin: Adriana Dovha


Marc Köster
lebt in Kaufbeuren (Deutschland) und ist Werbe- und Produktfotograf bei OK photography. Nach der Ausbildung zum Fotografen im Betrieb seines Vaters arbeitet er seit 2012 hauptberuflich als Fotograf für viele internationale Unternehmen und unterstützt diese mit Fotos, Filmen und High-End Retusche. Marc Köster engagiert sich seit über 10 Jahren ehrenamtlich für die Ukraine und hat diese mehrfach bereist. 

Maksym Kozmenko
lebt in Tscherniwzi (Ukraine) und ist Fotograf und Fotojournalist. Seine Arbeiten wurden auf Gazeta.pl, BBC Ukraine, Deutsche Welle, Ukrinform, TSN, Censor.net, 5 Kanal, Espresso, Mirror Weekly, The Ukrainians, LB.ua, Kyiv Daily, Calvert Journal und anderen veröffentlicht. Er realisiert Fotoprojekte, die mit dem Krieg in der Ukraine verbunden sind. Dabei hat er unter anderem an der Berichterstattung über Themen wie erzwungene Umsiedlungen, die Befreiung von Städten (Izyum, Balakliya) von Russen, die Exhumierung von Leichen im Wald bei Izyum und die Geschichten der Bukowiner, die die Ukraine verteidigen, gearbeitet. Die Arbeiten von Maxim Kozmenko wurden in vielen Ländern ausgestellt.

Adriana Dovha
lebt in Lwiw (Ukraine) und ist Dozentin für Geschichte der Fotografie an der Hochschule für Kultur und Kunst in Lwiw. Seit 2009 ist sie als Fotografin tätig, hat im Laufe der Zeit an diversen internationalen Ausstellungen teilgenommen und wurde für ihre Arbeit bereits vielfach ausgezeichnet. Darüber hinaus ist sie Mitglied der Nationalen Union der Fotografen der Ukraine.


SCHAEZLERPALAIS
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Kunstsammlungen und Museen Augsburg
Direktor: Dr. Christof Trepesch

Kunstsammlungen und Museen Augsburg in Kooperation mit dem Deutsch-Ukrainischen Dialog e.V.
Das Projekt wird vom Auswärtigen Amt gefördert.
The project is funded by the German Federal Foreign Office
Проєкт реалізується за фінансової підтримки Федерального Міністерства закордонних справ Німеччини.

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